Gespräch mit Dr. Schütrumpf

Dr. Jörn Schütrumpf ist Historiker, Autor, Verleger und Experte für Person und Werk  Rosa Luxemburgs. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben und herausgegeben und ist Leiter der Fokusstelle Rosa Luxemburg der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Mit ihm habe ich über die Person Rosa Luxemburg und über die Aktualität ihres Denkens gesprochen.

Zum 150. Geburtstag Rosa Luxemburgs hat die RLS eine Webstory in vier Sprachen veröffentlicht. Können Sie ein wenig darüber erzählen?

Die Webstory ist natürlich auch ein Kind der Pademie und war für diesen Zeitpunkt überhaupt nicht geplant. Aber wir haben im Ende September Anfang Oktober angefangen zu begreifen, dass das ein böser Winter wird und dass wir alle höchstwahrscheinlich nicht ins Ausland reisen können. Wir haben 20 Auslandsbüros, die natürlich Veranstaltungen durchführen und sich Referenten aus Deutschland holen. Es war absehbar, dass das nicht möglich sein wird. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, eine Website zu Rosa Luxemburg zu machen, die ich zwar ohnehin in der Planung hatte, aber erst für das zweite Halbjahr 2021. Also haben wir uns zu viert zusammengetan und auch ein paar KollegInnen zur Konsultation hinzugezogen. Zusammen mit einer Internetagentur haben wir dann die Website innerhalb kürzester Zeit entwickelt.

Das Besondere an dieser Webstory ist, dass wir uns darauf verständigt haben, nicht das Leben von Rosa Luxemburg einfach durchzuerzählen. Dazu gibt es genug Biografien. Stattdessen haben wir uns auf den Aspekt der von Rosa Luxemburg im Laufe ihres Lebens getroffenen Entscheidungen konzentriert. Also Entscheidungen, die ihr Leben geprägt haben. Das hat vor uns noch keiner gemacht. Für uns war das auch ein Experiment, und wir sind erstaunt, dass das doch sehr gut funktioniert. Die Reaktionen sind schon fast irritierend positiv, aber es gibt Schlimmeres.

Sie sind Leiter der Fokusstelle Rosa Luxemburg bei der RLS. Womit beschäftigen Sie sich dort?

Die Fokusstelle Rosa Luxemburg ist auch so ein Kind von verschiedenen Entwicklungen, der letzten zehn Jahre. Als wir uns 1999 dazu entscheiden, den Namen Rosa Luxemburg Stiftung anzunehmen, da taten wir das eher aus einem Bauchgefühl heraus und weniger aus einem wirklich gesättigten Wissen. Wer etwas anderes erzählt, der lügt. Ich war damals an dieser Entscheidung maßgeblich beteiligt, und wie haben lange diskutiert und gerungen. Uns war dann auch klar, dass wir nicht das restliche Leben mit einem Bauchgefühl durch die Welt gehen können, sondern uns ernsthaft mit der Frau beschäftigen müssen. Wir hatten damals das große Glück, dass etliche Luxemburg-Forscher der ersten Generation noch unter uns weilten. Das war etwa Annelies Laschitza, die große, alte Dame der Rosa Luxemburg-Forschung. Das war Feliks Tych, Überlebender des Warschauer Ghettos, auf dessen Schultern wir eigentlich alle stehen, der in den frühen Fünfziger Jahren schon mit der seriösen Luxemburg-Forschung begonnen hat. Wir haben bei denen viel lernen können. Ich habe dann selber angefangen, mich mit Frau Luxemburg zu beschäftigen, was ich eigentlich überhaupt nicht vorhatte. Ich fand die ursprünglich auch gar nicht spannend. Ich habe dann zwischendurch den Verlag der Stiftung geleitet und merkte, es wird jetzt langsam peinlich, wenn wir nicht mal ein eigenes Einführungsbüchlein haben. Das habe ich dann 2005/2006 geschrieben und bin völlig anderes herangegangen als andere Luxemburg-Biografen. Und das wurde dann doch ein ziemlicher Erfolg und in mehrere Sprachen übersetzt. Ich meinte damals, wir müssen auch das Umfeld der Luxemburg, was völlig unterbelichtet und vergessen war, erschließen.

Nun ist Rosa Luxemburg seit 100 Jahren tot. Wie aktuell ist ihr Denken heute?

Da ist vor allem ihre Akkumulationstheorie. Diese wird hier in Europa unter Spezialisten schon noch diskutiert. Zum 100. Jahrestag sind auch ein, zwei wichtige Bücher dazu erschienen. Eine wirkliche Breitenrezeption gibt es aber hier in Europa nicht. Es gibt eine interessante Rezeption seit den Neunziger Jahren in den USA mit David Harvey und seinen Enteignungstheorien, die unmittelbar an Luxemburg anknüpfen. Seit den Vierziger Jahren gibt es eine Rosa Luxemburg Renaissance in Lateinamerika, die bis heute anhält. Wenn Sie etwa in Asunción in Paraguay ein Seminar machen, kann es Sie erstaunen, dass per Beamer Zitate aus Luxemburgs Akkumulationstheorie auf Spanisch an die Wand geworfen werden und die Leute das kennen und diskutieren. Das ist mir in Europa noch nicht passiert. Dort erlebt man natürlich diese Akkumulation und Enteignung, die zur Zerstörung indigener Kulturen führen, unmittelbarer.

Luxemburg meinte, dass dieser Prozess irgendwann an eine Grenze kommen werde und dann zusammenbräche. Was man aber heute sehen kann, ist das diese Kapitalisierung in die Tiefe geht und dass sie eben nun auch Sozialbereiche erfasst wie das Gesundheitswesen, das Schulwesen, die Universitäten und so weiter. Heute wird ja alles der Kapitallogik unterworfen und dann noch der Finanzmarktlogik. Aber neuere Diskussionen zeigen, dass dies mittlerweile in Frage gestellt wird, weil man merkt, das funktioniert auf Dauer nicht. Diese Pandemie ist dafür ein wunderbarer Ausdruck, dass es um Profit geht und nicht um Menschen, etwa weil man momentan keinen Impfstoff herstellen kann, weil man danach nicht genug daran verdient. Ich glaube, das alles hätte Rosa Luxemburg Bestätigung gegeben.

Die Versammlungsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Freiheit des Individuums vor der Willkür des Staates sind für sie ganz essenzielle Voraussetzungen für Sozialismus.


Neben der Akkumulationstheorie ist von Luxemburg geblieben, dass sie sich Sozialismus nur als eine Einheit von politischen und sozialen Rechten vorstellen konnte. Die Bolschewiki etwa haben ziemlich schnell die politischen Rechte, die zuvor erkämpft wurden, wieder abgeschafft. Sie haben zwar eine Reihe sozialer Freiheiten gewährt, aber auch das bloß eine Zeitlang. Das war für die Luxemburg einfach des Teufels. Rosa Luxemburg war ein Kind der Aufklärung, der Französischen Revolution. Für sie war der Rechtsstaat die Grundvoraussetzung, dass es politische Rechte gibt, die allen zukommen. Rechte, die in einem Prozess erkämpft werden müssen, in den immer mehr Gruppen einbezogen werden.

Die Versammlungsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Freiheit des Individuums vor der Willkür des Staates sind für sie ganz essenzielle Voraussetzungen für Sozialismus. Sie hatte eine Wahnsinnsangst vor einer Sektenherrschaft, vor einer Minderheitendiktatur, die natürlich nur dann funktionieren kann, wenn sie politische Rechte abschaffen. Sie war der Meinung, eine Partei kann nicht die Emanzipation der Unterdrückten ersetzen. Sie glaubte, dass die Menschen ihrer Interessen gewahr werden müssen. Und das funktioniert nur in einem Rechtsstaat, wo Öffentlichkeit herrscht, wo Pressefreiheit herrscht. Das alles ist natürlich heute nicht sehr im Bewusstsein, aber wir tun unser Bestes, indem wir ihre Werke bergen und veröffentlichen. Und indem wir Veranstaltungen machen, wenn die Lage es wieder zulässt.


In der DDR nahm das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht einen wichtigen Stellenwert ein, wie aber wäre wohl Luxemburgs Einstellung zur damaligen SED-Führung gewesen?


Nun, das war ja ein gespaltenes Gedenken. Ihr Denken war ja eigentlich verpönt und man hatte bereits in den Zwanziger Jahren einen Luxemburgismus erfunden, der mit ihrem Denken nichts zu tun hatte. Man hat ihr da diverse Dinge angedichtet, um vergessen zu machen, was die Frau eigentlich wirklich wollte. Dieser Unsinn war sehr erfolgreich. Man findet ihn nach wie vor auf vielen Webseiten und in zahlreichen Büchern sowieso. Das hat man in der DDR anfangs exzessiv gemacht, da gab es ein Buch, wo nochmal alle Märchen wunderbar aufgewärmt wurden. Das wurde den Leuten in der DDR quasi eingeprügelt, auf dass sie möglichst nie auf die Idee kämen, Rosa Luxemburg im Original zu lesen. Andererseits brauchte man natürlich die Leiche. Man musste ja seine eigene Herrschaft legitimieren. Da nahm man sich gerne Leute, die tot waren und sich nicht mehr wehren konnten. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren natürlich die Paradepferde. Man stellte sie auf eine Säule und zwar auf eine ganz hohe, damit man sie nicht sah, und ließ am zweiten Sonntag im Januar Zehntausende am vermeintlichen Grab vorbeilaufen. Die Verteufelung der Luxemburg wurde in den späten Fünfziger Jahren zurückgenommen. Nicht in dem Sinne, dass man sie dementiert hätte, man hörte einfach auf darüber zu sprechen, so wie das damals im Ostblock war.


Was wenige wissen, Rosa Luxemburg war nicht nur politische Aktivistin, sondern auch Übersetzerin, hat Briefe von hoher literarischer Güte geschrieben und Herbarien erstellt. Wie war die Person Rosa Luxemburg?


Luxemburg entstammte einem zwar nicht sehr wohlhabenden, aber sehr gebildeten Bürgertum. Mütterlicherseits stammte sie von einer Rabbinerfamilie ab. Das waren nicht nur Religionslehrer, sondern auch hochgebildete Leute, so dass Bildung in ihrer Familie von je her einen hohen Stellenwert hatte. Der Vater war von seinem Vater zur Ausbildung nach Deutschland geschickt worden. Das war ein Bildungsbürgertum aus einem Landstrich, man muss sich einen Streifen vorstellen, der etwa von der Ostsee bei Estland und Litauen quer durch Polen bis runter nach Odessa ans Schwarze Meer ging. Diese Gegend war mehrsprachig, eine ganz eigene Kultur in unterschiedlichen Staaten, sehr kosmopolitisch. Bei ihr zuhause wurde Polnisch gesprochen. Kein Jiddisch, das war eher verpönt. Die Mutter sprach zusätzlich Französisch. Ihr Abitur hat Rosa Luxemburg mit Auszeichnung und gezwungenermaßen auf Russisch abgelegt. Sie wuchs quasi viersprachig auf, hat früh angefangen zu schreiben und Kultur war quasi die Luft, die sie atmete. In ihrem Elternhaus schätzte man die deutsche Kultur, die Literatur, vor allem Schiller. Manche Experten meinen, dass sie aufgrund ihrer Behinderung ihre intellektuellen Fähigkeiten umso mehr ausgebildet hat. Sie hatte eine hohe Sensibilität und eine sehr ganzheitliche Weltsicht, also sie unterschied nicht groß zwischen Menschen und Tieren. Sie war in die Vögel genauso vernarrt wie in ihre Liebhaber – vielleicht gar noch mehr.